"Da hatte die USA einen neuen Staatsfeind…" - Interview mit dem "Spiegel"-Ressortleiter Deutschland

Holger Stark ist Leiter des Ressorts Deutschland beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Seit über fünfzehn Jahren arbeitet er zu Themen der Inneren Sicherheit, insbesondere zu Geheimdiensten und berichtet aus der Welt der Hackerszene. Zusammen mit seinem Kollegen Marcel Rosenbach hat er in diesem Jahr das Buch "Staatsfeind WikiLeaks" geschrieben. Der Band, in Deutschland inzwischen in der zweiten Auflage erschienen, gilt mittlerweile als internationaler Bestseller, ist in mehr als zehn Ländern und zahlreichen Sprachen publiziert worden. GiselaLeaks hat mit Holger Stark über das Buch, die Bedeutung von Öffentlichkeit, über Transparenz in der Politik und die Stärkung der Demokratie gesprochen.

GiselaLeaks: Sie haben als Spiegel-Redakteur zusammen mit Marcel Rosenbach in diesem Winter den Band 'Staatsfeind WikiLeaks' herausgebracht. Worum geht es?

Holger Stark: Wir sind schon vor Jahren auf das Projekt aufmerksam geworden und wollten dessen Entwicklung beschreiben sowie seine weitere Entwicklung dokumentieren. WikiLeaks als ein Internet-System zur Verbreitung geheimer Daten begann Ende 2006 mit dem so genannten 'Chinesischen Paket', einem angeblich rund ein Terabyte umfassenden Datenpaket mit zahlreichen Geheiminformationen, das WikiLeaks zugespielt worden sein soll. Mit diesem Datenpool warb WikiLeaks in der Anfangsphase, zu Weihnachten 2006 wurde dann ein Dokument über einen angeblich geplanten islamischen Umsturzplan in Somalia auf wikileaks.org veröffentlicht. Das war der erste öffentliche Auftritt von Wikileaks.
Einer breiteren Öffentlichkeit werden WikiLeaks und sein Gründer Julian Assange bekannt, als Assange 2007 in Nairobi während des Weltsozialforums sein Projekt einer internationalen Öffentlichkeit vorstellt. Assange und seine Unterstützer haben für Informanten, die anonym bleiben möchten, einen digitalen Briefkasten zur Verfügung gestellt. Diesen Prozess, bis zum Aufstieg von WikiLeaks zum Staatsfeind haben wir nachgezeichnet.

GiselaLeaks: Entscheidend dafür war wohl das Jahr 2010?

Holger Stark: Ja, den weltweiten Durchbruch brachten sicher die Veröffentlichungen der Kriegstagebücher aus Afghanistan (Afghan War Diary) im Juli 2010, das Tagebuch des Irak-Kriegs (Iraq War Logs) im Oktober sowie die im November 2010 veröffentlichten Berichte und Lagebeurteilungen der US-Botschaften in aller Welt. Cablegate, wie diese aus dem US-Außenministerium stammende Datensammlung genannt wird, besteht aus mehr als 251.000 auch als geheim eingestuften Dokumenten. Spätestens da war allen Regierungen klar, dass sich die Frage nach dem Einfluss von WikiLeaks auf Medien und Politik noch einmal neu stellte. Wir beim Spiegel hatten diese Daten vorab erhalten, analysiert und zeitgleich mit WikiLeaks darüber berichtet. Auch Zeitungen wie Le Monde, El País und der Guardian waren einbezogen.

Vor allem in den USA wird Assange seitdem als neuer Staatsfeind betrachtet und entsprechend unnachgiebig verfolgt.

GiselaLeaks: Wie ordnen Sie WikiLeaks in der gegenwärtigen Medienlandschaft ein?

Holger Stark: Ich betrachte Plattformen wie WikiLeaks als Ergänzung zu den etablierten Medien. WikiLeaks bietet Informanten eine Plattform, indem es das Internet nutzt – neu im Vergleich zu gängiger journalistischer Arbeit ist also zunächst also erstmal nur die Zurverfügungstellung von anonymen Informationen in digitaler Form, die via Internet eingesandt wurden.

Die ursprüngliche Annahme von Julian Assange, es würde so etwas wie Schwarmintelligenz entstehen, bei der WikiLeaks die Daten ins Netz stellt und viele User sie analysieren und politisch einordnen, diese Vorstellung hat nicht funktioniert. Eine inhaltliche und professionelle Analyse bleibt notwendig, kann aber von Plattformen wie WikiLeaks nur sehr bedingt geleistet werden. Nicht umsonst hat sich Der Spiegel mit den Zeitungen The Guardian aus Großbritannien und der New York Times zusammengetan, um die insgesamt derzeit etwa 750.000 Dokumente auszuwerten und darüber zu publizieren.

GiselaLeaks: Müssten wir WikiLeaks nicht eher als 'Staatsfreund' bezeichnen?

Holger Stark: Der Titel ist zunächst eine Pointierung des internationalen Aufschreis, vor allem der US-amerikanischen Regierung angesichts der Veröffentlichungen von WikiLeaks. Die Frage nach 'Staatsfeind' oder 'Staatsfreund' ist eine Frage der Betrachtungsweise. Solche Veröffentlichungen stellen für Staaten eine Herausforderung dar. Sicher gibt es einen legitimen Kern von Geheimnissen und Geheimhaltung, aber der sollte möglichst klein gehalten werden. Im demokratietheoretischen Sinn stärkt mehr Transparenz eher das politische System, weil es die Glaubwürdigkeit und die Überprüfbarkeit von politischem Handeln fördert. Das Prinzip der “Checks and balances” ist ein unverzichtbarer Bestandteil demokratischer Gesellschaften, und darin spielt WikiLeaks eine legitime Rolle. Das gilt im Übrigen auch unabhängig davon, ob man, wie der WikiLeaks-Gründer Julian Assange in einem Strategiepapier 2006, den Staat als eine Ansammlung von Verschwörern versteht. Assange versteht WikiLeaks als ein Werkzeug, mit dem die Fäden der Macht zwischen diesen antidemokratischen Netzwerken zerschnitten werden sollen. Man muss jedenfalls nicht an eine weltweite Elitenverschwörung glauben, um WikiLeaks für ein brauchbares Instrument für einen transparenten und demokratischeren Staat zu verstehen.

GiselaLeaks: Wie ordnen Sie die Bedeutung von Medienmodellen wie WikiLeaks für eine demokratische, transparente Gesellschaft ein?

Holger Stark: Wie gesagt, zunächst ist WikiLeaks ja nur ein Werkzeug, ein neuer Transmissionsriemen, denn Informanten, die über Skandale berichten, hat es immer schon gegeben. Der heutige Präsident der USA, Barack Obama, hat sich vor seiner Präsidentschaft in seiner Funktion als Rechtsanwalt in Chicago sogar für die Unterstützung so genannter Whistleblower, also auch von anonymen Informanten, ausgesprochen. Er wollte damit unter anderem den Kampf gegen Korruption verbessern. Heute, selbst davon betroffen, ist er einer der mächtigsten Gegner von WikiLeaks.
Medienpolitisch stellen sich aber Fragen: Die Quellenverantwortung etwa wird zum Teil delegiert, denn veröffentlicht werden auf solchen Plattformen auch ungeprüfte Dokumente – etwas, was Journalistinnen und Journalisten nie machen oder wenigsten nie machen sollten. Die Angaben überprüfen müssen also andere Akteure.

GiselaLeaks: Quellenverantwortung ja auch eine ethische Frage, denn es könnten ja auch Dokumente aus simpler Rache oder um eines fragwürdigen Voyeurismus willen auf solchen Plattformen landen.

Holger Stark: Allerdings. WikiLeaks etwa hatte im Januar 2009 einen angeblich positiven HIV-Test von Apple-Chef Steve Jobs veröffentlicht, ohne ihn so umfassend wie nötig zu prüfen und um eine Stellungnahme von Jobs nachzusuchen. Damit sind nicht nur Fragen der Privatsphäre angesprochen, sondern es stellen sich auch Fragen danach, was solche ungeprüften Dokumente wirtschaftspolitisch, etwa bei Apples Aktienkursen, auslösen können. Solche, ich will es mal grenzüberschreitende Veröffentlichungen nennen, sind bei WikiLeaks allerdings die Ausnahme.

GiselaLeaks: Nochmals zum Potential für eine transparentere und demokratische Gesellschaft.

Holger Stark: Wer, wie WikiLeaks, so unterschiedliche Sachverhalte wie etwa die deutschen Toll-Collect-Verträge, ein Handbuch aus dem US-Gefangenenlager Guantánamo, Audio- und Videoaufzeichnungen von internen Scientology-Treffen oder von Soldaten aus Afghanistan veröffentlicht, Korruption und Machtmissbrauch in Kenias Regierung durch die Veröffentlichung eines internen Prüfberichtes der Detektei Kroll aufdeckt, leistet jedenfalls einen Beitrag zu einer transparenteren Gesellschaft. Ob sie dadurch auch demokratischer wird, hängt allerdings vom gesellschaftspolitischen Umgang mit solchen Informationen ab. Wir zeigen das ja auch in unserem Buch.

GiselaLeaks: Glauben Sie, dass das Konzept Nachahmer finden wird?

Holger Stark: Die gibt es ja schon. OpenLeaks etwa, das von Daniel Domscheit-Berg, dem ehemaligen Sprecher von WikiLeaks Deutschland, aufgebaut wird und demnächst mit der Testphase startet, weiter etwa balkanleaks.eu oder GreenLeaks.org. Es sind mittlerweile vielleicht ein knappes Dutzend solcher digitalen Briefkästen online. Auch die zur WAZ Mediengruppe gehörende Zeitung "Der Westen" hat sich von dem Modell inspirieren lassen und bietet eine solche Plattform an. Im Vergleich zu dem Hype, der um dieses Modell zunächst gemacht wurde, halten sich die Resultate aber in Grenzen. Dass OpenLeaks noch nicht online ist, hat auch etwas damit zu tun, dass die Betreiber noch nicht überzeugt sind, ihr System sei auch für die Informanten sicher genug. Der Aufwand für die Erstellung eines sicheren und anonymen Systems ist erheblich.

GiselaLeaks: Finden Sie das System der anonymen, digitalen Briefkästen legitim? Konkret gefragt, würden Sie dazu aufrufen, geheim gehaltene Informationen zu veröffentlichen?

Holger Stark: Das Prinzip des investigativen Journalismus lebt davon, dass Informationen, die über das notwendige Maß hinaus von Regierungen, Unternehmen oder beispielsweise Geheimdiensten zurückgehalten werden, veröffentlicht werden. Vielleicht würde ich solche Informationen aber eher an einen Journalisten meines Vertrauens übergeben, als sie anonym via Internet zu verschicken.

GiselaLeaks: GiselaLeaks bittet um Informationen über undemokratisches, populistisches Verhalten von Teilen der Brandenburger CDU und des Verfassungsschutzes. Wir können allerdings keine Anonymität garantieren. Wenn etwa Geheimdienste oder Hacker sich in unsere E-Mail-Kommunikation einschleusen würden oder Server beschlagnahmen lassen, wären unsere Informanten offen gelegt. Uns geht es mehr um eine offene Auseinandersetzung mit Problemen, mit der die Brandenburger Zivilgesellschaft konfrontiert ist. Trotzdem: Würden Sie auch ein Buch über GiselaLeaks schreiben?

Holger Stark: Wenn GiselaLeaks Zugang zu 251.000 geheimen Dokumenten etwa des Außen-, Innen- oder Verteidigungsministeriums zur Verfügung stellen könnte, dann würde ich das ernsthaft in Erwägung ziehen.

GiselaLeaks: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Buch:
Marcel Rosenbach und Holger Stark (2011): Staatsfeind WikiLeaks. Wie eine Gruppe von Netzaktivisten die mächtigsten Nationen der Welt herausfordert. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 335 S., 14,99 Euro.